Die AfD in Kassel

Aus dem Jahresbericht 2019

Bei der Landtagswahl in Hessen am 28.10.2018 schaffte die Alternative für Deutschland (AfD) mit 13,1 % der Stimmen auch im letzten deutschen Landtag den Sprung über die 5 % Hürde und war somit in allen Bundesländern (als Oppositionspartei) vertreten. Im Wahlkreis Kassel-Stadt I trat Manfred Mattis zur Wahl für die AfD an und holte 8,7 % der Stimmen. Mattis, schon seit den Anfängen der AfD in Kassel Teil der Partei, trat auch außerhalb dieser in Erscheinung. So agierte er z.B. als Redner bei KAGIDA und trat zuletzt auch als Schaulustiger des Kutschera-Prozesses in Erscheinung.

 

In dem Wahlkreis Kassel-Stadt II trat Thomas Materner zur Wahl an und holte 12,5 % der Stimmen. Als Kultur-Kommissar für die AfD machte der Stadtverordnete Materner dabei keinen Hehl aus seiner rechten Gesinnung. Beispielsweise bezeichnete er den während der documenta14 gebauten Obelisken als „ideologisch polarisierende, entstellte Kunst“. Der Obelisk thematisiert die Aufnahme von Geflüchteten und trägt die Inschrift „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“.

Im Kontext der rassistischen Ausschreitungen von Chemnitz zwischen dem 26.08.2018 und dem 01.09.2018, im Anschluss an den Tod von Daniel H., forderte Materner zudem eine StädtePartnerschaft mit Chemnitz und kommentierte dies unter anderem mit den Worten „Ich wünsche den Kasseler Bürgern den Mut der Chemnitzer, sich gegen eine todbringende Migration zu erheben“.

Bewegungspartei

Die AfD sieht sich als Bewegungspartei und möchte nicht nur als parlamentarische Akteurin Akzente setzen, sondern sich auch auf den Straßen präsent zeigen. So rief die Partei zu bundesweiten Demos in Berlin oder am 01.09.2018 nach Chemnitz auf, um dort einen weiteren öffentlichen Schulterschluss mit Faschist*innen außerhalb der AfD zu vollziehen. Dort lief die AfD, darunter auch Akteur*innen aus Kassel, mit PEGIDA und bekennenden Neonazis zusammen. Auch der mutmaßliche spätere Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, nahm an dieser Demo teil, gemeinsam mit Markus Hartmann, welcher Ernst vermutlich die Waffe besorgte.In Kassel selbst ist die Straßenpräsenz der AfD relativ gering. Kurz nach der Gründung der Partei in Kassel stand Manfred Mattis als Redner bei KAGIDA am Mikrofon. In der jüngeren Vergangenheit gab es am 17.09.18 auf dem Opernplatz noch eine kleinere Kundgebung, mit einem Gegenprotest von 2500 Menschen.

Frauenmahnwache

Was jedoch sehr präsent und nahezu unwidersprochen regelmäßig in der Kasseler Innenstadt stattfindet, ist die sogenannte „Frauenmahnwache“. Hier findet sich jeden 2. Dienstag um 15:00 Uhr eine Gruppe von 10-15 Personen auf dem Opernplatz zusammen, die dies noch bis August 2020 fortführen will.

Die Teilnehmer*innen behaupten, ein unparteiischer Zusammenschluss von „Besorgten Bürgern“ zu sein. Doch sind die Verbindungen zur AfD eindeutig. Dies zeigt sich sowohl personell, als auch thematisch. Das Kernthema beschreibt dabei die rassistische Vorstellung, Sexual- und Gewaltverbrechen gingen nahezu ausschließlich von Menschen aus, denen ein sogenannter Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Personelle Überschneidungen lassen sich z.B. in Bezug auf Jürgen und seine Frau S. Schröder feststellen. Bei der Mahnwache sind diese für das bereit- und aufgestellte Material verantwortlich, welches nach der Veranstaltung entweder in den Räumlichkeiten der AfD im Rathaus lagert oder mit nach Hause genommen wird. Jürgen Schröder ist außerdem für den AfD Ortsverband Vellmar aktiv und besucht gemeinsam mit seiner Frau die Stammtische der AfD Kassel Stadt. Diese finden fast ausschließlich in der Kombinatsgaststätte Marbachshöhe statt.

Jürgen Schröder

Jürgen Schröder

Junge Alternative Kassel

Jugendorganisationen von Bundesparteien zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie noch radikaler und provokanter sind, als die Bundespartei. Bei einer Partei wie der AfD könnte man denken, dass es schwierig ist, radikaler als die Bundespartei zu sein. Jedoch wurden in der Vergangenheit Mitglieder der Jungen Alternative (JA) von der AfD ausgeschlossen, weil diese der Partei zu radikal waren.

Da diese Ausschlüsse in der Zeit passiert sind, als die JA in anderen Bundesländern vom Verfassungsschutz als Prüffall eingestuft wurde, liegt die Vermutung nah, dass diese Ausschlüsse dazu dienen sollten, sich einer Prüfung zu entziehen.

Auch Tristan Lessing und Carsten Dietrich wurden aus der JA ausgeschlossen. Ein Grund für diesen Ausschluss liegt dabei darin, dass sich beide öffentlich in unterschiedlichen Videos der „Identitären Bewegung“ (IB) gezeigt und sich somit dazu bekannt haben, Aktivisten dieser extrem rechten Bewegung zu sein. Bei Lessing, der vorher gemeinsam mit Jan Nolte (AfD Bundestagsabgeordneter) zum Vorstand des JA-Kreisverbands Waldeck-Frankenberg gewählt wurde, kam noch hinzu, dass dieser Mitglied der rechten Kasseler Burschenschaft Germania ist. Eine Gemeinsamkeit, die Lessing mit dem Gründer und heutigen Vorsitzenden der JA Hessen, Michael Werl, teilt. Werl, der bereits Schriftführer des hessischen Ablegers der Partei „Die Republikaner“ war, lebte seinerseits zwei Jahre lang im Haus der „Burschenschaft Germania“ und gründete Anfang 2016 die JA in Hessen. Werl ist nicht nur der Vorsitzende der JA in Hessen, sondern sitzt auch für die Kasseler AfD im Rathaus und ist trotz „Germania“ Vorgeschichte dort sogar der Chef der AfD-Fraktion.

Screenshot: Lessing (Mitte, rote Turnschuhe) nimmt 2014 an Aktion der Identitären Bewegung Teil

Screenshot: Lessing (Mitte, rote Turnschuhe) nimmt 2014 an Aktion der Identitären Bewegung Teil

Vorsitzender der AfD-Jugend in Kassel ist Marius Deuker, welcher besonders mit seinem Facebookprofil auf sich aufmerksam machte. So waren in seiner Freund*innenliste identitäre Aktivist*innen, unter seinen Gefällt-mir-Angaben war die „Identitäre Bewegung“ gelistet und er hatte freundschaftlichen Kontakt zu dem Gründer von „Reconquista Germania“. Anders als sein Stellvertreter Carsten Dietrich, behielt Deuker jedoch sein Amt. Was bei Dietrich möglicherweise noch schwerer wog, war sein Auftritt in dem Video der IB, Facebook-Freund*innenschaften mit bekannten Akteur*innen der IB sowie von ihm getroffene Aussagen. So lassen sich ihm z.B. Aussagen zuordnen wie: „Ich will in einem Deutschland leben in dem die Deutschen leben und das ist mein gutes Recht!“ oder „Sollen doch die gehen, die gern in einer multikulturellen Gesellschaft leben wollen. Hier geht es um die Existenz des deutschen Volkes.“

Kombinatsgaststätte Marbachshöhe

Die Kombinatsgaststätte (Amalie-Wündisch-Straße 3 in 34131 Kassel) bietet der AfD seit mittlerweile zwei Jahren einen Ort, an dem sie ungestört ihre Stammtische, Vorträge, Feste oder andere Events abhalten kann. Dabei wird die AfD dort nicht nur während ihrer Treffen im Nebenraum geduldet. Mittlerweile wird ihr das gesamte Lokal zur Verfügung gestellt, sodass es an manchen Abenden unmöglich ist, mit dem Betreten der Gaststätte nicht auch Teil einer AfD-Veranstaltung zu sein.

Betrieben wird die Kombinatsgaststätte von Michael Groth. In einem Interview mit der örtlichen Presse im Jahr 2015, in dem es um die zwischenzeitliche Nutzung der anliegenden Kaserne als Unterkunft für Geflüchtete ging, erklärte ein Mitarbeiter sinngemäß, dass er Mitgefühl mit den dort lebenden Menschen hätte. Doch bliebe seine Kund*innenschaft aus unbegründeten Vorurteilen gegenüber geflüchteten Menschen der Gaststätte fern.

Der Rassismus seiner Kund*innenschaft scheint der Betreiber Michael Groth allerdings nicht ganz fern zu sein, hält er es doch für legitim, die AfD monatlich als Ehrengast in seinem Lokal zu bewirten. Diese Events werden selten öffentlich beworben, sondern eher von den eingeladenen Redner*innen selbst. So hat z.B. Mariana Harder-Kühnel, Mitglied des Bundestages, auf ihrer Facebook Seite für ihren Vortrag am 03.12.2019 in Kassel geworben. Ansonsten scheinen die Veranstaltungen eher intern beworben zu sein. Die Treffen in der Kombinatsgaststätte gelten als Orte des Zusammenkommens und des Austausches der Basis. Auch zu Besprechungen im Funktionär*innenkreis trifft man sich bevorzugt in den Räumlichkeiten der Kombinatsgaststätte. Immernoch ohne eigenes Parteibüro in der Stadt, kompensiert die Gaststätte damit nachweislich einen Großteil der parteilichen Infrastruktur. Vor allem die hiesigen Treffen der Basis sind laut eigener Aussage „für alle interessierten Bürger frei zugänglich“. So war auch der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, an mindestens drei dieser Treffen zugegen. Abgesehen vom Beiwohnen dieser Treffen, half Ernst auch beim AfD-Wahlkampf und hing z.B. bei der Landtagswahl 2018 Plakate für die Partei auf. Bei der darauf folgenden Wahlparty war Ernst ebenfalls zugegen.

Nachtrag Januar 2022: Der vorig im Artikel geführte Lothar J. ist nach eigenen Angaben nicht mehr Mitarbeiter der Marbachshöhe und steht ebenfalls nach eigenen Angaben der AfD nicht nahe. Michael Groth betreibt die Gaststätte Marbachshöhe in Eigenregie.

Michael Groth, Betreiber der Marbachshöhe

Michael Groth, Betreiber der Marbachshöhe

Stammlokal der AfD in Kassel ist ausgerechnet die Ostalgie-Kneipe „Zur Marbachshöhe“

Stammlokal der AfD in Kassel ist ausgerechnet die Ostalgie-Kneipe „Zur Marbachshöhe“

 

 

 

 

Schlussfolgerungen

Auch wenn die Wahlergebnisse der AfD zeigen, dass die Partei zuletzt keine großen Zugewinne mehr verzeichnen konnte, muss auch für Kassel festgehalten werden, dass sich die Partei zumindest weiter radikalisiert hat. Deutlich wird dies an ihrer Rhetorik sowie daran, dass AfD-Akteur*innen wenig Probleme damit haben, gemeinsam mit Neonazis aufzutreten. Um Abgrenzung wird sich, wenn überhaupt, nur dann bemüht, wenn aufgrund anderweitiger politischer Aktivitäten von Mitgliedern oder Funktionär*innen ein Skandal droht und ein Verlust der Person verkraftbar ist. Mit der AfD finden zudem rassistische, antifeministische und weitere menschenverachtende Positionen verstärkt Eingang in Bundestag, Landtage und Rathäuser. Diese Perspektiven vertritt jedoch nicht die AfD allein. Dass derlei Inhalte in Parlamenten diskutiert werden, bedeutet vielmehr, dass sie in der breiten Bevölkerung längst angekommen sind. Daran kann die AfD anknüpfen. Letztlich kann es die Partei nur geben, weil sie von vielen Menschen der bundesdeutschen Gesellschaft gewählt wurde; trotz oder gerade wegen ihrer menschenverachtenden Positionen. Sie ist damit Ausdruck eines größeren Problems, das sie gleichzeitig verstärkt. Dass Rassist*innen auch in Kassel immer mehr Mut entwickeln, sich in der Stadt Raum zu nehmen, sich über ihre Weltansicht auszutauschen oder ihren Rassismus offen und nahezu unwidersprochen auf die Straße zu tragen ist nicht zuletzt auch der AfD anzulasten, war sie doch in der entscheidenden Entstehungsphase am Aufbau von KAGIDA beteiligt. Welchen Dienst die AfD der rechten Bewegung tut, ist auch Neonazis bewusst. Das wird am Beispiel Stephan Ernst besonders deutlich.

Für ihn ließen sich die Unterstützung der AfD, durch finanzielle Zuwendung und tatkräftige Hilfe beim Wahlkampf in Kassel einerseits und seine gewalttätige Laufbahn innerhalb der Neonazi-Szene sowie schließlich der politische Mord offenbar vereinbaren. An seiner Person lässt sich feststellen, dass die vermeintlich gemäßigte (wahlweise auch „nur“ populistische oder demokratische) AfD auch auf militante Neonazis eine gewisse Anziehungskraft ausübt. Kein Wunder, konnte doch keine rechte Partei der letzten Jahrzehnte vergleichbare Erfolge aufweisen.

Damit zeigt sich, dass die AfD, trotz der mitunter vorgeschobenen Distanzierungsversuche, längst auch militanten Neonazis eine „politische Heimat“ bietet. Diese müssen nicht unbedingt Mitglied der Partei werden, um in deren Umfeld aktiv zu sein. Dass die AfD zumindest auf Landes und Bundesebene derzeit realistischere Chancen auf konkrete politische Erfolge hat als rechte Kleinstparteien und außerparlamentarische neonazistische Organisationen, macht sie attraktiv für Menschen aus unterschiedlichen rechten Spektren. Darunter befinden sich neofaschistische Burschenschafter, die sich eine Polit-Karriere oder gutbezahlte Mitarbeiterstellen versprechen genauso wie alte Kamerad*innen der Generation Rostock-Lichtenhagen, die durch die rassistische Mobilisierung der letzten Jahre, an der auch die AfD maßgeblich die Mitschuld trägt, erneut politisch aktiviert werden. Dafür ist Stephan Ernst ein gutes Beispiel.

Wir verweisen auch auf unser aktuelleres und umfangreicheres Recherchepapier zur Kasseler AfD von 2021. (Link)