Der Mord an Walter Lübcke

Aus dem Jahresbericht 2019

Am 02. Juni wurde Walter Lübcke auf seiner Terrasse in Wolfhagen erschossen. Kurze Zeit später wurde Stephan Ernst, der jahrzehntelang in rechtsradikalen Kreisen verkehrte, festgenommen. Es folgt eine Chronologie der Ereignisse und eine politische Einordnung der Tat.

Markus Hartmann (links, mit Mütze und Telefon in der Hand) und Stephan Ernst (rechts) bei AfD-Demonstration in Chemnitz 2018

Markus Hartmann (links, mit Mütze und Telefon in der Hand) und Stephan Ernst (rechts) bei AfD-Demonstration in Chemnitz 2018

Am 14. Oktober 2015 findet in Lohfelden, einem Stadtteil von Kassel, eine Informationsveranstaltung zu einer Erstaufnahmeunterkunft für Geflüchtete statt. Im Internet ruft KAGIDA dazu auf, mit möglichst vielen „Patrioten“ an der Veranstaltung teilzunehmen und den Vertreter*innen der Stadt gegebenenfalls Paroli zu bieten. Am Ende drängen sich etwa 800 Personen in den Raum und hören zu, wie Regierungspräsident Walter Lübcke die Einrichtung skizziert. Auf Zwischenrufe der KAGIDA-Anhänger*innen, die Stimmung gegen die Unterkunft machen, entgegnet er, ihnen stehe es frei, das Land zu verlassen.

Diese Aussage sorgt nicht nur unter den Anwesenden für Unruhe, sondern macht ihn bundesweit zur Zielscheibe aufgehetzter Neonazis, Rassist*innen und anderer Menschenfeind*innen. Im Anschluss an die Veranstaltung ist er monatelang Morddrohungen ausgesetzt, von Rechten wird seine Adresse im Internet veröffentlicht. Davon betroffen ist er zwar nicht alleine – auch andere Menschen, die sich in der Region für Geflüchtete engagieren, werden angefeindet und bedroht – als Regierungspräsident steht Lübcke allerdings besonders im Fokus.

Chronik

Am 02. Juni wird Walter Lübcke auf seiner Terrasse in Wolfhagen bei Kassel erschossen. Zwei Wochen später wird Stephan Ernst als Tatverdächtiger auf Grund von DNA Spuren festgenommen. Schnell ist klar: Stephan Ernst ist seit Jahrzehnten Teil der Neonaziszene.
Bereits vor dem Mord an Walter Lübcke war bekannt, dass Ernst in der Vergangenheit durch versuchten Totschlag, Landfriedensbruch, Körperverletzung, Brandstiftung, illegalen Waffenbesitz und der versuchten Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion aufgefallen war.

Erstmalig tritt er 1989, also im Alter von 15 Jahren, polizeilich in Erscheinung. Damals versuchte er in Michelbach (Aarbergen) ein Haus, in dem Menschen mit türkischem Migrationshintergrund lebten, anzuzünden. Der 15 Jährige Stephan legte im Keller des Wohnhauses Feuer; mit dem Wissen, dass er damit Menschen töten könnte.

Im Alter von 19 Jahren attackiert Ernst einen muslimischen Mann mit einem Messer auf einer öffentlichen Toilette im Wiesbadener Hauptbahnhof. Zuerst sticht Ernst ihm in den Rücken, danach dreht er das Opfer um und sticht ihm in den Brustkorb und in den Bauch. Der Mann überlebt den Angriff nur durch eine Notoperation. Im Alter von 20 Jahren verübte Ernst einen Brandnschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete in Hohenstein-Steckenroth, nur durch schnelle Löscharbeiten der Bewohnner gab es hier keine Todesopfer. Ernst legte in ein zwischen den Wohncontainern parkendes Auto eine Rohrbombe und zündete das Auto an. Durch die Hitze des Brandes sollte die Rohrbombe detonieren, was durch die raschen Löscharbeiten verhindert wurde.

Für die Taten, die er im Alter von 19 und 20 Jahren begang, wurde Ernst zu einer Jugendstrafe von 6 Jahren Haft verurteilt.

Stephan Ernst (links) und Mike Sawallich (rechts) bei NPD-Kundgebung am Stern in Kassel 2002

Stephan Ernst (links) und Mike Sawallich (rechts) bei NPD-Kundgebung am Stern in Kassel 2002

Direkt nach seiner Haftentlassung engagierte sich Ernst im NPD-Umfeld und war bundesweit bei Nazi-Demos als Teilnehmer oder als Ordner beteiligt. 2009 trat Ernst das letzte mal polizeilich in Erscheinung als er gemeinsam mit anderen Nazis die 1. Mai Demo vom DGB in Dortmund angriff. Mit den Ermittlungen zu dem Mordfall Lübcke werden auch neue Ermittlungen in alten, ungeklärten Fällen aufgenommen. Dort kommt im Nachhinein heraus, dass Ernst als Täter infrage kommt.

So gab es beispielweise 2016 einen Messerangriff auf einen Geflüchteten vor seiner Unterkunft in Lohfelden. Diese ist weniger als drei Kilometer vom Ernsts Wohnort entfernt. Die Aufzeichnung einer Überwachungskamera zeigte einen Mann der auf einem Fahrrad floh, jedoch waren die Aufzeichnungen nicht gut genug, um den Täter eindeutig identifizieren zu können. Im Anschluss der Tat waren Polizist*innen bei Ernst zu Hause, da sie ihn verdächtigten und ließen sich unter anderem sein Fahrrad zeigen. Die damaligen Ermittlungsergebnisse waren allerdings nicht ausreichend, um Ernst für den Angriff mit dem Messer zu verurteilen. Neben dem Mord an Walter Lübcke wird Ernst nun voraussichtlich auch wegen dem Mordversuch in Lohfelden angeklagt werden, weil Spuren des Opfers an einem Messer im Haus von Ernst gefunden wurden.

Eine weitere Tat, die im Raum Kassel geschah, bei der die Vermutung nahe liegt, dass Ernst etwas damit zu tun haben könnte, ist ein versuchter Mordanschlag auf einen Kassler Geschichtslehrer und bekennenden Antifaschisten.

Auf ihn wurde am morgen des 20. Februar 2003 mit einer Waffe von dem Kaliber 6mm geschossen. Der Lehrer stand in seiner Küche hinter einem verschlossenem Rollladen und wurde nur knapp von der Kugel verfehlt. Die Polizei stufte den Anschlag nur als versuchte schwere Körperverletzung ein, da die Person, die geschossen hatte, nicht hätte sehen können, ob sie das Opfer trifft.

Weil die Tat als versuchte schwere Körperverletzung eingestuft wurde, wurden bereits 2013 alle Beweise vernichtet. Ein Indiz, das dennoch dafür spricht, dass Ernst etwas mit dem Mordversuch zu tun haben könnte, ist eine Liste, die auf einem verschlüsselten Datenträger bei Ernst gefunden wurde. Darauf waren neben 60 anderen Personen auch die Daten des Lehrers vermerkt. Ernst hatte eine Datei angelegt, in der neben einer Fotografie des Lehrers und seinem Namen, seiner Adresse auch die antifaschistischen Organisationen bei denen er sich engagierte, vermerkt waren. Bisher bestreitet Ernst dies jedoch.

Außerdem befand sich auf einem Datenträger eine Datei, die nahelegt, dass Ernst die Synagoge in Kassel für einen Anschlag ausgespäht hatte. Darin vermerkte er, wann sich besonders viele Menschen in der Synagoge aufhielten.

Auch im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss waren die Aktivitäten von Ernst Thema: Die Partei Die Linke fragte nach Informationen über ihn, als es um die nordhessische Neonaziszene ging. Kurz nach seiner Verhaftung legt Ernst in einer 8-stündigen Vernehmung ein umfangreiches Geständnis ab. Als Motiv nennt er die Äußerungen von Walter Lübcke bei der Informationsveranstaltung in Lohfelden 2015. Er gibt an, alleine gehandelt zu haben, verrät sein Waffenversteck auf dem Gelände seines Arbeitgebers Hübner, erzählt von seinen Waffen – unter denen eine Maschinenpistole und eine Pumpgun sind – und er nennt Namen. Er sagt, er habe selber auch zwei Waffen verkauft. Außerdem bezeichnet er den Mord an Lübcke als Fehler, sagt aber gleichzeitig auch, dass die Tat lange geplant gewesen sei. So sei er bereits im Jahr 2017 und 2018 jeweils zum Haus gefahren, habe sich dann aber gegen die Tat entschieden.

Nach seinem Geständnis kommt es zu weiteren Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Markus Hartmann aus Kassel und Elmar Johannwerner aus Höxter werden wegen Verdachts auf Beihilfe zum Mord festgenommen. Markus Hartmann hatte den Kontakt zum Waffenhändler Elmar Johannwerner hergestellt. Zwei weitere Hausdurchsuchungen gab es in Helsa und Fuldabrück, bei den Männern, an die Ernst Waffen verkauft hat. Der Mann aus Fuldabrück soll – genauso wie Ernst auch – bei der Firma Hübner arbeiten. Trotzdem geht die Bundesstaatsanwaltschaft nicht davon aus, dass Elmar Johannwerner, Markus Hartmann und Stefan Ernst eine terroristische Vereinigung gegründet hätten.

Seit Anfang Juli wird auch gegen die Familie von Stephan Ernst ermittelt. Im Fokus steht hier vor allem sein Schwiegervater, weil auf seinen Namen ein Auto zugelassen ist, auf das mutmaßlich auch Stephan Ernst Zugriff hatte. Dieses Auto ist in der Vergangenheit schon öfter aufgefallen, u.a. bei einem Treffen der Hilforganisation nationaler Gefangener (HNG) in Hessisch-Lichtenau im Jahr 2002. Zeug*innen haben in der Mordnacht ein verdächtiges Auto beobachtet, welches nach den Beschreibungen wahrscheinlich das Auto von Ernsts Schwiegervater ist. Die Schlüssel zu diesem Auto wurden bei einer Hausdurchsuchung in Ernsts Haus gefunden. Ungefähr zur selben Zeit widerruft Ernst sein Geständnis und wechselt den Anwalt. Sein neuer Anwalt ist Frank Hannig aus Dresden, der aus dem PEGIDA Umfeld kommt. Da sein Geständnis sehr umfangreich war, hat der Widerruf zunächst keine Auswirkungen auf die weiteren Ermittlungen.

Im August wird bekannt, dass bei Durchsuchungen insgesamt 46 Waffen von Ernst, Hartmann und Johannwerner gefunden wurden.

Im September veröffentlicht die antifaschistische Rechercheplattform Exif Fotos, die Stephan Ernst und Markus Hartmann bei der Anreise zum AfD Aufmarsch in Chemnitz im Jahr 2018 zeigen. Bisher gaben Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang und Innenminister Horst Seehofer auf einer Pressekonferenz im Juni an, Stephan Ernst sei seit 2009 nicht mehr als Neonazi in Erscheinung getreten. Dass das nicht stimmt und Ernst kein sogenannter „Schläfer“ war, zeigen nicht nur die Fotos aus Chemnitz, sondern auch eine Notiz vom ehemaligen Chef des hessischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2009. Darin wird Ernst als „brandgefährlich“ eingeschätzt. Die Notiz war Teil eines internen Vermerks über die nordhessische Neonaziszene, die auch während einer nichtöffentlichen Sitzung des hessischen NSU-Untersuchungsausschuss thematisiert wurde.

Im Oktober wird öffentlich, dass der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme mit Stephan Ernst dienstlich befasst war. Er hatte im Jahr 2000 zwei Berichte über ihn unterzeichnet. Andreas Temme ist eine der Schlüsselfiguren in den Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat durch den sogenannten NSU. Er führte nicht nur einen V-Mann in der nordhessischen Neonaziszene, sondern war zum Tatzeitpunkt am Tatort anwesend. Bis heute ist nicht geklärt, welche Rolle Andreas Temme bei dem Mord an Halit Yozgat durch den sogenannten NSU in Kassel spielt.

Inzwischen wird gegen Stephan Ernst nicht nur wegen des Mordes an Walter Lübcke ermittelt. So steht er auch im Verdacht, Anfang 2016 in Lohfelden versucht zu haben, einen Geflüchteten aus dem Irak zu ermorden. Dieser wurde im Januar 2016 von hinten mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt.

Mitte Januar legt Ernst ein neues Geständnis ab, in dem er Markus Hartmann als Täter mitbelastet. Er gibt an, er und Hartmann seien gemeinsam zu Walter Lübcke gefahren, um ihm eine „Abreibung“ zu verpassen. Er habe Hartmann auf seinen Wunsch während der Hinfahrt die Mordwaffe gegeben. Während eines Streits habe sich dann ein Schuss gelöst als Lübcke nach Hilfe rufen wollte.

Der Prozess gegen Ernst beginnt am 16. Juni vor dem hessischen Oberlandesgericht in Frankfurt.

Der Anwalt: Frank Hannig

Im März 2015 war Hannig Wortführer bei der Gründung des „Pegida Förderverein e.V.“. Er übernimmt zwar kein Amt, kontrolliert aber monatelang ein Treuhandkonto, auf das PEGIDA-Mitgliederbeiträge eingezahlt werden. 2017 hetzt er als Redner bei einer PEGIDA Demonstration in Dresden gegen die „Lügenpresse“, nachdem er die Einstellung des Verfahrens gegen vier Angeklagte erreicht hatte, die in Arnsdorf einen Geflüchteten an einen Baum Frank Hannig gefesselt hatten. Hannig vertritt auch den Justizbeamten, der nach dem tödlichen Messerangriff in Chemnitz 2018 den Haftbefehl des mutmaßlichen Täters ins Internet gestellt haben soll. Im Mai 2019 wurde er für die Freien Wähler in den Dresdener Stadtrat gewählt. Gemeinsam mit Susanne Dager bildet er eine Fraktion, die als rechts von der AfD angesehen wird.

Das Umfeld von Stephan Ernst

Nazigruppe, die sich 2002 in Kassel am Rande einer NPD-Wahlkampfveranstaltung am Stern versammelt hatte. Neben Stephan Ernst (ganz rechts) treten weitere zentrale Figuren der Kasseler Neonazi-Szene dort in Erscheinung.

Nazigruppe, die sich 2002 in Kassel am Rande einer NPD-Wahlkampfveranstaltung am Stern versammelt hatte. Neben Stephan Ernst (ganz rechts) treten weitere zentrale Figuren der Kasseler Neonazi-Szene dort in Erscheinung.

1: Mike Sawallich, eine frühere Führungsfigur der JN/NPD. Später war er Mitglied im Freien Widerstand Kassel. Laut Medienberichten unterhielt er zumindest in der Vergangenheit enge Kontakte zu Thorsten Heise. Kurz nach der Festnahme von Ernst solidarisierte er sich mit ihm, indem er ein Foto bei Facebook hoch lud, das die beiden Arm in Arm zeigt. Er halte den Mord für eine Verschwörung und gab an, „in guten, wie in schlechten Zeiten“ zu seinem Kameraden zu stehen.

2: Stanley Röske war Teil der Oidoxie Streetfighting Crew. Zuletzt wurde er bekannt durch die Veröffentlichung von Exif zu Combat18 Strukturen. Ausführliche Informationen zu Stanley Röske findet ihr im Beitrag über die Sektion von Stanley Röske.

3: Michel Friedrich war ebenfalls Teil der Oidoxie Streetfighting Crew und ist Gründer des Rockerclubs „Hardcore Crew Cassel“. Zuletzt bekannt wurde er durch einen geplatzten Waffendeal im Jahr 2015, als er zwei 9mm Pistolen an ein Mitglied von Blood&Honour bzw. Combat18 verkaufen wollte. Aufgeflogen ist der Waffendeal aufgrund von Recherchen der Autonomen Antifa Freiburg.

4: Markus Eckel gehörte zur KSV-Hooligan Szene. Der frühere FAP-Funktionär ist heute Teil der „Arischen Bruderschaft“, bewegt sich also im engsten Umfeld von Thorsten Heise. Auch Eckel bewegte sich in den letzten Jahren eher unter dem Radar. 2018 nahm er mit anderen Kasseler Neonazis an einem Combat 18 Treffen mit Oidoxie-Liederabend im Flieder-Volkshaus in Eisenach teil. Das Treffen wurde als „Solidaritätsabend“ für André Eminger, einem der engsten Freunde und Unterstützer von Mundlos, Bönhardt und Zschäpe organisiert.

5: Christian Wenzel kommt aus der Kasseler Kameradschaftsszene und ist eine wichtige Figur mit Kontakten ins Blood&Honour Spektrum. Sein Stiefbruder ist Benjamin Gärtner, der als V-Mann „Gemüse“ durch Andreas Temme geführt wurde.

Markus Hartmann

Nicht mit auf den Fotos ist Markus Hartmann, der wegen Verdachts auf Beihilfe zum Mord ebenfalls im Gefängnis sitzt. Markus Hartmann bewegte sich schon in den 90ern in FAP-Kreisen und war später Teil der Kasseler Kameradschaftsszene. Sein Name taucht auch im Rahmen des NSU-Komplexes auf, weil er auffällig oft eine Internetseite der Polizei besuchte, die sich mit der Tat in Kassel befasste. Er wurde daraufhin verhört und erzählte etwas von persönlichem Interesse an dem Fall. Dass Hartmann auch damals Teil der rechtsradikalen Szene war, wurde nicht vermerkt. Bei einer Hausdurchsuchung bei Hartmann wurde ein Buch des rechtsradikalen Autors Akif Pirinçci gefunden, in dem der Name von Walter Lübcke markiert worden war.

Stephan Ernst und Markus Hartmann kennen sich schon lange – beide waren 2009 am Angriff auf die DGB Demo in Dortmund beteiligt. Sie sind beide seit 10 Jahren im selben Schützenverein, wo Hartmann – im Unterschied zu Ernst – allerdings nicht nur Bogen, sondern auch mit Feuerwaffen schoss.

Laut dem Verein hätten beide keinen Zugriff auf Waffen des Vereins gehabt.Außerdem hat Hartmann vor einigen Jahren als Leiharbeiter bei Hübner gearbeitet – also der gleichen Firma, wo auch Stephan Ernst gearbeitet hat. Auch die Informationsveranstaltung zur Unterkunft für Geflüchtete in Lohfelden im Jahr 2015, bei der Walter Lübcke sprach, besuchten Ernst und Hartmann gemeinsam.

Aus diesen personellen Bekanntschaften wird deutlich, dass Stephan Ernst in genau dem Milieu verkehrte, aus dem mutmaßlich die Unterstützungsleistung für den Mord an Halit Yozgat geleistet worden sein muss. Es ist skandalös, dass von der hessischen Landesregierung und dem Verfassungsschutz weiterhin eine Aufklärung des NSU-Mordes sabotiert wird.

Dass Neonazis in Kassel so selbstbewusst sind, ist nicht überraschend. Schließlich ist die Kasseler Szene 2006 schon einmal mit einem Mord davongekommen. Stephan Ernst wurde – ebenso wie Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos – Ende der 1980er Jahre politisch sozialisiert. Diese politische Sozialisierung sah sich durch den Umbruch der „Wende“ und die kriegerischen Konflikte auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens sowie den Fluchtbewegungen Anfang der 1990er Jahre beeinflusst. Ende der 1980er Jahre gab es deswegen bereits eine von den Unionsparteien gestartete, rassistisch aufgeladene Kampagne gegen Zuwanderung, in der Kampfbegriffe wie „Asylmissbrauch“ in den Diskurs einflossen. Durch die Medien erfährt diese Kampagne Unterstützung und „Das Boot ist voll“ wird zum geflügelten Wort einer rassistischen, geflüchtetenfeindlichen Bewegung aus Parteien, Medien und von Neonazis angeführten Menschenmassen auf der Straße, die in Pogromen und Morden mündeten. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln stehen beispielhaft für die Gewaltausbrüche von Neonazis Anfang der 1990er Jahre. Diese Gewalt und Terror-Erfahrungen waren für eine ganze Generation junger Neonazis prägend.

Stephan Ernst (Mitte, Sonnenbrille) am 1. Mai 2002 in Göttingen

Stephan Ernst (Mitte, Sonnenbrille) am 1. Mai 2002 in Göttingen

Einzelfall?

Durch die Morddrohungen und die durch KAGIDA und AfD erzeugte Stimmung, konnte Stephan Ernst das Gefühl haben, nur der Vollstrecker des Volkszorns zu sein. Die Verschiebung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses nach rechts, darf in ihrem Einfluss auf die Überzeugung, im Namen des Volkes gehandelt zu haben, dabei nicht unbeachtet bleiben.Im Internet wurde Lübcke als „Volksverräter“ beschimpft, am Montag nach der Veranstaltung in Lohfelden wird in Dresden vor fast 20.000 PEGIDA-Anhänger*innen gegen ihn gewettert. Auch nach seinem Tod brachten Rechte hämisch ihre Freunde über den Mord zum Ausdruck, machten sich über den Tod lustig und Walter Lübcke selbst für seine Ermordung verantwortlich.

In seinem widerrufenen ersten Geständnis gab Ernst an, Lübcke aufgrund seiner Äußerungen im Oktober 2015 ermordet zu haben. Die unzähligen Morddrohungen und Anfeindungen im Internet werden zumindest dazu beigetragen aben, ein Klima zu schaffen, in dem Lübcke als zu beseitigender Verräter des deutschen Volkes erscheinen konnte. Mit diesem gebündelten Hass auf Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen – und das mag bei einem konservativen Politiker umso mehr wie Verrat erscheinen – konnte sich Ernst womöglich als Vollstrecker des Volkszorns fühlen.

Doch dieses gesellschaftliche Klima erzeugen nicht Neonazis allein. Beteiligt daran waren auch die bundesweiten PEGIDA-Strukturen, deren Aufmärsche des lokalen Ablegers KAGIDA zumindest in der Region die größten nennenswerten Naziaufmärsche des letzten Jahrzehnts gewesen sind.Beteiligt daran war auch die AfD, die den Aufbau der KAGIDA-Struktur maßgeblich unterstützte und deren Anhänger*innen im Internet und auf der Straße gegen Walter Lübcke hetzten.

Andersherum akzeptieren Menschen wie Stephan Ernst die AfD als ihre parlamentarische Vertreterin. Darauf deutet neben einer Wahlkampfspende von 150 Euro, die er im Jahr 2016 dem besonders radikalen AfD Landesverband in Thüringen überwiesen hat, auch noch die Teilhabe an Infoabenden der AfD Kassel-Stadt und an der Landtagswahlparty 2018 hin. Für die besagte Landtagswahl agierte Ernst auch noch als Wahlkampfhelfer und hängte Plakate zum Wahlkampf für die AfD auf. Zum gesellschaftlichen Klima gehören aber auch jene Teile anderer politischer Lager und insbesondere der etablierten Parteien, die versuchen ihre Verluste an Wähler*innenstimmen wieder gut zu machen, indem sie inhaltlich nach rechts rücken und immer wieder Gesprächsbereitschaft mit der AfD einfordern. Und da mutet es besonders absurd an, dass ausgerechnet die CDU den Dialog mit der Partei sucht, die maßgeblich das Klima mit erzeugt hat, das zur Ermordung einer ihrer Politiker führte.

Reaktionen in Kassel

Der Mord erschütterte nicht nur Kassel, sondern ganz Deutschland. In der Stadt war eine große Betroffenheit und ein Schock wahrnehmbar und der Mord war über Wochen Gesprächsthema. In der Lokalpresse erschienen teils mehrere Artikel zum ErnstKomplex pro Tag. Trotzdem reagierte ein Großteil der Gesellschaft – wenn überhaupt – nur langsam auf den Mord.

Trotz der nahezu greifbaren Betroffenheit der Menschen in Kassel, ließ eine politische Reaktion zunächst auf sich warten. Obwohl das Opfer der tödlichen Nazigewalt diesmal ungewöhnlicherweise ein hochrangiger, qua Parteizugehörigkeit konservativer Lokalpolitiker war, regte sich im konservativen politischen Lager zunächst wenig. Das mag an einer Art Schockstarre gelegen haben, oder an der Unfähigkeit, die Tat politisch einzuordnen und entsprechend zu reagieren. Wer jahrzehntelang die Gefahr von Neonazis und deren Taten verharmlost, wird womöglich auch rechten Terror nicht sofort erkennen; selbst wenn es einen aus den eigenen Reihen trifft.

So kam es, dass sowohl in Kassel als auch in anderen Städten die ersten Versuche, einen kollektiven Umgang mit Betroffenheit und Empörung zu finden, von linken Gruppen unternommen wurden. Für die „Gemeinsam gegen rechten Terror“-Demonstration konnten innerhalb kürzester Zeit 2.500 Menschen mobilisiert werden, was nicht zuletzt der Unterstützung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Verbände und Organisationen zu verdanken ist. Kurz darauf organisierte auch die Stadt eine Kundgebung zum Gedenken an ihren ermordeten Regierungspräsidenten, zu der etwa 15.000 Menschen kamen. Der politische Gehalt der Trauerkundgebung war jedoch gering.

Besonders skurril wirken vor dem Hintergrund des Mordes die durch die CDU praktizierten, anhaltenden Eingemeindungsversuche der AfD. Nachdem deren Anhänger*innenschaft im Internet über Jahre hinweg gegen Lübcke wetterte und so tausendfach die Legitimation für den Mord schuf, bewies Stephan Ernst im Umkehrschluss, dass auch die Nazi-Mörder dieser Gesellschaft die AfD als ihre Partei anerkennen.