Die „Querdenken“-Bewegung in Kassel – Ein Rückblick auf 2020

Seit unserer ersten Einschätzung zu den „Hygiene Demos“ in Kassel hat sich viel getan: die „Querdenken“-Bewegung konnte sich bundesweit etablieren und Großdemonstrationen wie in Berlin und Leipzig haben ihre Gefährlichkeit auch auf der Straße bestätigt. Sie ist zum Sammelbecken und Aktionsfeld der extremen Rechten geworden – Hooligans, „Neue Rechte“ und Neonazis konnten in ihrem Schutz und mit der Zustimmung des mobilisierten Volkes zeitweise weitgehend ungehindert in Aktion treten.

Eine derartige Dynamik ist in Kassel zu keinem Zeitpunkt feststellbar gewesen. Nichtsdestotrotz stellt die regionale Beteiligung der AfD an den Protesten über das Milieu aus Esoteriker*innen, Impfgegner*innen und Verschwörungsideolog*innen hinaus eine Gefahr dar.

Kreisverbandsprecher der Kasseler AfD Thomas Schenk (2.v.l) mit dem stellv. Fraktionsvorsitzenden Gerhard Schenk (mitte) auf dem „Schweigemarsch“ am 14.11.20

„Querdenken“-Bewegung in Kassel – Ein kurzer Überblick

Nach den ersten Kundgebungen der „NichtOhneUns“-Initiative im April, bei denen Heike Nehring als Anmelderin fungierte, ist es der Bewegung über das Jahr hinweg gelungen, in Kassel kontinuierlich Aktivitäten zu entfalten. Von unterschiedlichen Organisationsgruppen (Querdenken561, Corona Rebellen Kassel, Eltern stehen auf, etc.), losen Netzwerken und Einzelpersonen wurden regelmäßig Kundgebungen, Meditationen, Spaziergänge, Stammtische, Flugblattverteilungen, „Flashmobs“, Vorträge und Autodemos organisiert.

Mit bis zu 200 Teilnehmer*innen bildeten dabei die zweiwöchentlichen Demonstrationen der „NichtOhneUns“-Initiative den Höhepunkt an erreichter Außenwirkung. Diese Struktur gliederte sich im August in die bundesweite „Querdenken“-Organisation ein und mobilisierte für die bundesweiten Großdemonstrationen. So nahmen in Kassel etwa 25 Personen an einer organisierten Busanreise nach Berlin teil. Die Großereignisse stellten dabei auch für neonazistisches Klientel eine Attraktion dar – aus Kassel reiste beispielsweise Mike Sawallich am 29. August nach Berlin, wo er gemeinsam mit etwa 40.000 Verschwörungsideolog*innen und Neonazis im Regierungsviertel demonstrierte.

Mike Sawallich – langjähriger Neonazikader und Freund von Stephan Ernst. Quelle: Pixelarchiv

Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen vor Ort in Kassel besteht dagegen nicht im gleichen Ausmaß eine Dominanz der extremen Rechten. Auch wenn gegenwärtig etwa zu der rassistisch motivierten Frauenmahnwache (Jahresbericht 2019, S.9) oder der Kundgebung des Pegida-Aktivisten Michael Stürzenberger Überschneidungen bestehen, sind die Aktivist*innen und Teilnehmer*innen überwiegend politische Neuzugänge.

Dies schmälert allerdings nicht notwendigerweise die Gefährlichkeit der Bewegung. Ihre Versammlungen, Foren und Telgegramgruppen sind ein Ort in dem die Akteure sich gegenseitig in ihren Verschwörungserzählungen und den damit einhergehenden antisemitischen Weltdeutungen bestärken. Die Rede der Kasseler Aktivisten Jana ist dabei keinesfalls eine Entzauberung, sondern höchstens ein Beispiel – die Selbststilisierung zum Opfer und die Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus sind von Anfang und über das Jahr hinweg in Kassel die offen propagierte Politik der Bewegung gewesen.

Die in dieser Gesellschaft real erfahrene Ohnmacht wird in der „Querdenken“-Bewegung meist auf eine umfassende Manipulation bösartiger Gruppen zurückgeführt – sie haben das Virus erfunden oder nutzen es für ihren Plan zur Gestaltung einer „neuen Ordnung“. Die Selbstwahrnehmung als Opfer wird dabei mit dem Gefühl kompensiert Teil einer Erweckungsbewegung zu sein. Teilweise schlagen die Ressentiments der Corona-Rebellen aber auch in offen Hass auf Jüdinnen und Juden um. Ein solcher wurde in Kasseler Gruppen, wenn nicht geteilt, so doch mehrheitlich toleriert.

Christopher Reuber – Administrator der „CR Labergruppe KS“ – teilt seit Monaten antisemitische Propaganda in Kasseler Gruppen und rief dazu auf, sich zu bewaffnen

„AfD“ – Im Kampf gegen die „Corona-Diktatur“

Neben der konkreten Gefährlichkeit von (Einzel-)Personen mit Vernichtungsphantasien stellt die Beteiligung der AfD an den Protesten gegen die Corona-Maßnahme eine ernstzunehmende Entwicklung dar. Nach einem anfänglichen Zögern der Bundespartei ist auch in Kassel zu beobachten, dass die AfD und ihr Umfeld zunehmend versuchen sich in den Vordergrund der Bewegung zu setzten.

AfD-Stadtverordneter Gerhard Gerlach auf der „Nicht-Ohne-Uns“-Kundgebung am 23.05.20

So bildet die Agitation gegen die Corona-Maßnahmen mittlerweile den programmatischen Schwerpunkt der Kasseler AfD. Zudem nahmen mehrere Mitglieder des Kreisverbands Kassel-Stadt sowie Stadtverordnete der AfD wiederholt an den von „Querdenken561“ organisierten Versammlung teil und versuchten sich aktiv in die Bewegung einzubringen. Neben der Rede des Ex-Funktionärs Manfred Mattis auf einer frühen Kundgebung am 25. April, wurde etwa von dem AfD-Kreisverbandssprecher und Stadtrat Thomas Schenk wiederholt angeboten Flugblattverteilungen mitzuorganisieren.

Das Bestreben der „Alternative für Deutschland“ sich als parlamentarisches Sprachrohr der neuen Bewegung zu etablieren und organisatorische wie personelle Unterstützung zu leisten, ist auch in Kassel erkennbar. Ein solcher Versuch der AfD als rechte Bewegungspartei aufzutreten, hat sich bei den Pegida-Protesten als gefährlich erwiesen. Er muss nun ebenso bei der „Querdenken“-Bewegung bekämpft werden.

Michael Moses-Meil und Norbert Hansmann – Kandidaten der AfD für die Kommulwahlen in Kassel Stadt – auf dem „Schweigemarsch“ am 14.11.20

Ausblick – Ein Ende von „Querdenken561“?

Anfang Dezember verkündete die Kasseler Struktur „Querdenken561“ ihren Rückzug aus der überregionalen „Querdenken“-Organisation und erklärte zukünftig in dieser Form keine weiteren Kundgebungen mehr organisieren zu wollen. Damit einhergehend wird eine Absage an eine parteipolitischen Vereinnahmung formuliert und es werden auch Tendenzen innerhalb der eigenen Bewegung problematisiert. Eine grundsätzliche Distanzierung von der „Querdenken“-Bewegung findet jedoch nicht statt und es wird dazu aufgerufen weiterhin Protestaktionen zu organisieren. Der einstweilige Rückzug des ursprünglichen Organisationsteam von „Nicht-Ohne-Uns“ kann somit in erster Linie verstanden werden als ein Ausdruck der in der „Querdenken“-Bewegung vorherrschenden Heterogenität.

Der teilweise Rückzug von „Querdenken561“ bedeutet jedoch keinen Ende der „Querdenken“-Bewegung in Kassel. Neben Autodemos wurden seitdem unter dem Motto „Freie Bürger Kassel“ weitere Kundgebungen organisiert, bei welchen der umtriebige Informatiker Philipp Kolodziej als Anmelder auftrat.

Philipp Kolodziej versucht sich als „Multi-Media“-Aktivist

Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Organisator*innen im selben Ausmaß an die Aktivitäten von „Querdenken“ in Kassel anknüpfen können und ob sich unter ihnen das Profil der Bewegung nach außen hin radikalisiert.

Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die bundesweite „Querdenken“-Bewegung im kommenden Jahr an die zwischenzeitlichen Mobilisierungserfolge vom Herbst 2019 anknüpfen können wird. Innere Konflikte und ein Strategiewechsel der Polizei hin zu einem deutlich repressiveren Umgang mit Verstößen gegen die Corona-Auflagen hatten zuletzt bspw. die Mobilisierung am 12. Dezember nach Dresden deutlich ausgebremst. Trotzdem sollte nicht davon ausgegangen werden, dass sich das vorübergehend stark mobilisierte politische Millieu von Esoteriker*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Antisemit*innen, Neonazis, Hooligans und parlamentarischer Rechten in Deutschland zeitnah von selbst erledigt. Die Notwendigkeit der konformistischen Rebellion entgegenzutreten und eine linke Bewegung gegen den status quo und seine Krisen voranzutreiben bleibt bestehen.